Gottfried Benn : Poesie und Sozialisation

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URI: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-43738
http://hdl.handle.net/10900/46545
Dokumentart: Book
Date: 2009
Language: German
Faculty: 5 Philosophische Fakultät
Department: Sonstige - Neuphilologie
DDC Classifikation: 830 - Literatures of Germanic languages
Keywords: Benn, Gottfried
License: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=de http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=en
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Inhaltszusammenfassung:

2. Aufl. Die folgenden Studien kreisen um die immer noch ungelöste Frage, warum Gottfried Benn, dieser extrem unpolitische, staats- und gesellschaftsfeindliche Mann, der wie kein zweiter die Autonomie der Kunst, die Souveränität der dichterischen »Ausdruckswelt« gegenüber aller Geschichte verkündete, ein Mann weiterhin, der bis zum Ende der zwanziger Jahre von vielen Zeitgenossen eher zu den ›linken‹ als zu den ›rechten‹ Schriftstellern gezählt wurde, warum ausgerechnet dieser einzelgängerische, volksferne und esoterische Dichter sich vom Februar 1933 bis Ende Juni 1934, also bis zum sog. »Röhm-Putsch«, dazu bereit fand, öffentlich mit dem Regime des Dritten Reiches zusammenzuarbeiten. Antworten auf diese Frage, die zum ersten Mal Klaus Mann aus der Emigration an den von ihm so bewunderten Gottfried Benn richtete, gibt es inzwischen in großer Zahl. Sie liegen auf der weiten Skala zwischen Apologie und Polemik, zwischen der Verharmlosung des factum brutum als eines zufälligen Fehltritts oder gar eines »grandiosen Irrtums« (O. Jancke) und der Anklage, Benn sei ein bedenkenloser Opportunist, ein typischer kleinbürgerlicher Faschist oder gar ein bereitwilliger Nazi gewesen, der erst nach der Abweisung durch das Dritte Reich seinen Weg in die »innere Emigration« gefunden habe. Aus dem Ungenüge an solchen Antworten und Urteilen ist mein eigener Versuch einer Analyse und Deutung dieses für das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, Literatur und Politik, aber auch von innerer und äußerer Biographie im 20. Jahrhundert so exemplarischen »Falles« entstanden. Über dreißig Jahre nach dem Tode Gottfried Benns ist es an der Zeit, das Spannungsfeld von Faszination und Provokation, in das er seinen Leser und Interpreten hineinzieht, zu verlassen und ein Wort auf ihn zu übertragen, das Hans-Peter Schwarz auf Ernst Jünger gemünzt hat: »Der Erkenntniswert, nicht der Streitwert der Jüngerschen Irrtümer ist wesentlich!«. Und dieser Erkenntniswert bei Benn, der das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft als Gegensatz und Widerspruch thematisierte, ist vielleicht größer für uns als bei dem vielbehandelten Brecht, für den es eine Selbstverständlichkeit war. Mein Versuch läßt sich auf drei Thesen reduzieren, die in den zugehörigen Kapiteln entfaltet und evident gemacht werden: 1.Die Prämissen und Dispositionen für Benns Handeln und Schreiben in den Jahren 1933/34 liegen u. a. in seiner frühen Sozialisationsgeschichte. Sie lassen sich aus seinen autobiographischen Schriften und frühen Dichtungen in der von Friedrich Schlegel definierten Weise einer ›rückwärtsgekehrten Prophetie‹ kritisch- hermeneutisch rekonstruieren. 2. Es ist ein kontinuierlicher, schrittweiser Weg, der Gottfried Benn in das Jahr 1933 führte. Er beginnt bereits im Jahre 1928/29 und läßt sich anhand der vorliegenden Werke und Kenntnisse sehr genau als ein allmählicher Prozeß der Resozialisierung des Außenseiters Benn beschreiben. 3. Diese Resozialisierung, die mit seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste, Abteilung für Dichtung zu Beginn des Jahres 1932 endet, bringt Gottfried Benn in nächste Nachbarschaft und Affinität zum Geist der sog. »Konservativen Revolution«. In ihrem Zeichen steht alles, was er 1933/34 schreibt und tut. Das ausführliche erste Kapitel bildet ein Fundament, auf dem die beiden weiteren aufbauen; insgesamt nehmen sie einen Weg von innen nach außen, dessen Perspektiven sich wechselseitig ergänzen und bestätigen sollen: die erste betrachtet den »Fall« von innen, die zweite in einer schon vom Gegenstand gesetzten Vermittlung von innen und außen, die dritte schließlich von außen. Das Ziel ist, wenn man so will, der Entwurf einer »geistigen Biographie« Der Untertitel »Poesie und Sozialisation« degradiert die Poesie allerdings nicht zu einem Annex der Sozialisation; ich nähere mich dem Komplex der Sozialisation vielmehr umgekehrt, indem ich nach dem der Bennschen Poesie immanenten »soziologischen Nenner« frage, indem ich ihre »Bestände«, nicht ihre »Parolen « (II, 232) überprüfe. Es geht weniger darum, die Poesie zu soziologisieren oder zu psychologisieren, als vielmehr darum, undurchschaute und blinde Sozialfunktionen einer angeblich autonomen und absoluten Poesie zu erkennen und sie so erst ganz zu sich selbst zu bringen. Es geht um eine Verteidigung, nicht um die Relativierung und Schwächung der Poesie, um ihre Verteidigung auch gegen Gottfried Benn. Johannes R. Becher hat im Jahre 1952,vermutlich mit einem Seitenblick auf seinen Westberliner Lyrikkollegen, in den Studien zur »Verteidigung der Poesie« dekretiert: »Eine Verteidigung der Poesie kann nicht aus einer ›verinnerlichten‹ Position heraus erfolgen. In solch einer ›Igelstellung‹ wird das Poetische wehrlos überrannt. Eine Verteidigung der Poesie kann nur außerhalb des Poetischen selbst erfolgreich durchgeführt werden: man muß aus seiner Haut fahren, um sich seiner Haut zu erwehren.« Ein gutes Rezept für alle Hautbesitzer. Gottfried Benn war diese »Haut« nicht gegeben und er hatte schon deshalb nicht die Möglichkeit, ein politisch streitbarer Becher zu werden. Er ist ein Modellfall dafür, wie und mit welchen Opfern die Poesie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »aus einer ›verinnerlichten‹ Position heraus« verteidigt werden konnte. Seine Grunderfahrung, daß der Einzelne in einer ihm feindlichen/Umwelt auf verlorenem Posten lebt, daß sie ihn als Individuum auszulöschen droht, hat sich inzwischen - in West wie Ost - wohl kaum erledigt. Nicht nur Peter Rühmkorf, ein Nachfolger Benns, weiß ein Lied davon zu singen. Die Defensiv- und Außenseiterposition ist uns wieder vertrauter geworden; gerade deshalb bedarf sie der kritischen Überprüfung. Wenn überhaupt, so ist sie zitierbar nicht vor die Instanzen einer Becherschen, sondern der Adornoschen ästhetischen Theorie. An dieser Stelle ist freilich der Hinweis angebracht, daß es mit der Theoriefestigkeit meines Versuchs nicht zum besten bestellt ist. Aber seine ›Theoriedefizite‹ sind, - nicht nur in Rücksicht auf einen lesbaren Anmerkungsapparat - , sozusagen eingeplant worden - mit jenem Hochmut des Hermeneutikers, der alles anderen schuldet und doch alles selber zu verstehen und zu erklären beansprucht. Ich möchte der in den letzten Jahren weit verbreiteten Theoretisierung, Soziologisierung und Psychologisierung der Literaturwissenschaft nicht opponieren, sondern ihr mit den noch unverbrauchten Mitteln einer kritischen Texthermeneutik und einer möglichst präzisen ›Fallstudie‹ produktiv begegnen. Daß der Untertitel »Poesie und Sozialisation« dabei für den Leser in das schillernde Licht mehrfacher ironischer Brechungen geraten könnte - auch im Sinne einer selbstkritischen Relativierung der eigenen Studien -, gehört eher zu meinen Hoffnungen als zu meinen Ängsten. Die Abstandnahme von explizit literaturpsychologischen und literatursoziologischen Methoden ist mir im übrigen durch das kürzliche Erscheinen von O. Sahlbergs Buch über Benn erleichtert worden. Trotz neuer und plausibler Ansätze, die mit denen dieser Studien mehrmals konvergieren, fällt dieses Buch weit hinter das bei C. Pietzcker in seiner Arbeit über die »Lyrik des jungen Brecht« (1974) Erreichte zurück und macht die Literaturpsychologie - ein letztes Mal Polemik - in diskreditierender und zuweilen hanebüchener Weise zum Instrument des Ressentiments. Die vorliegenden Studien sind aus einer Vorlesung hervorgegangen, die unter dem Titel »Gottfried Benn. Werk und Zeitgeschichte« im WS 1973/74 an der Universität Freiburg i. Br., im WS 1974/75 an der Universität Tübingen gehalten wurde. Die Thesen des ersten Kapitels habe ich am 30. 10. 1974 in meiner Tübinger Antrittsvorlesung vorgetragen. Zwei weitere, bereits konzipierte Kapitel (»Imitatio Christi. Ein lyrisches Bewältigungsmodell der Jahre 1934-1936« und »Späte Lyrik und Lyriktheorie«) sind vorläufig ein Opfer der Situation geworden, die jedem Hochschullehrer in einem sog. »Massenfach« bekannt ist. Dank für Rat und Kritik schulde ich meinen Kollegen Harald Steinhagen und Hans-Georg Schumacher. Meinen Mitarbeitern Frau Sigrid Rösler, Fräulein Christiane Deußen und Herrn Hendrik Hauß danke ich für unermüdliche Schreibarbeiten und für die Hilfe bei der Bücherbeschaffung, der Erstellung der Bibliographie, des Registers und beim Korrekturlesen.

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