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Die Fundstellen der Schwäbischen Alb sind seit den 1860er Jahren Gegenstand der Urgeschichtsforschung. Die jägerische Archäologie oder, wie die Disziplin heute nur noch genannt wird, die urgeschichtliche Archäologie entwickelte sich in Tübingen parallel zu den Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb. Heutzutage versuchen wir die archäologischen Hinterlassenschaften mit einem sich immer weiter entwickelnden Methodenkatalog zu analysieren. Neue Methoden eröffnen uns tiefere Einsichten in die Welt der steinzeitlichen Gesellschaften, die bisher nicht möglich waren. Diese Arbeit versucht eine Neuanalyse des Vogelherds und weiterer Fundstellen der Schwäbischen Alb. Dabei soll der zur Verfügung stehenden Methodenkatalog möglichst gut genutzt und weiterentwickelt werden, ohne dabei den historischen Kontext der Funde aus dem Auge zu verlieren.
Der Hauptfokus der Arbeit liegt auf den Funden der Fundstelle Vogelherd im Lonetal. Der Vogelherd wurde 1931 durch Gustav Riek ausgegraben. Seit der Erstpublikationen durch Riek in den Jahren 1932, 1933 und 1934 wurde keine umfassende Analyse der Schichten, die alle Funde einschließt, durchgeführt. Mit dem Fortschritt der Forschungsmethoden und des Faches selbst, war eine Aktualisierung des Gesamtkontexts der Fundstelle nötig. In der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse dieser Überarbeitung vorgestellt. Steinartefakte sind die Fundkategorie, welcher in dieser Arbeit am meisten Aufmerksamkeit zukommt. Die typologischen und technologischen Eigenschaften der mittel- und jungpaläolithischen Inventare sind die Basis dieser Arbeit. Neue Datierungen, Neuanalysen der Forschungsgeschichte, Zusammensetzungen, die vollständige Analyse aller Steinartefakte aus der Altgrabung und die Analyse der Artefakte aus der Nachgrabung ergeben ein neues komplexes Bild der Fundstelle. Neben den bekannten Besiedlungen der Fundstelle im Mittelpaläolithikum, Aurignacien, Magdalénien und Neolithikum, konnten Nachweise einer gravettienzeitlichen und einer mesolithischen Nutzung der Fundstelle erbracht werden. Die Identifikation des Gravettien im Vogelherd zeigt, dass die Erhaltungsbedingungen der gravettienzeitlichen Schichten im Lonetal für jede Fundstelle individuell beurteilt werden müssen und die Schichten nicht immer, wie bisher vermutet, Erosion zum Opfer fielen. In der Kombination mit den Ergebnissen aus der benachbarten Fundstelle Langmahdhalde ergibt sich außerdem für das Magdalénien und die früheste Wiederbesiedlung der Schwäbischen Alb nach dem letzten Kältemaximum so ein neues Bild.
Mit neuen Datengrundlagen rund um den Vogelherd und das Paläolithikum der Schwäbischen Alb, zeigt sich ein immer komplexeres Abbild der steinzeitlichen Kulturen. Fassen wir für die einzelnen Technokomplexe die wichtigsten Erkenntnisse zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Im Mittelpaläolithikum zeigt sich der große Einfluss der Rohmaterialbeschaffung und der Entfernung der Aufschlüsse auf die Ausprägung der Inventare. Am Beispiel des Vogelherds und der Keilmesser wird dies besonders deutlich. Die Neandertaler auf der Schwäbischen Alb zeigen über einen Zeitraum von ca. 80.000 Jahren ein stabiles Konzeptreservoir. Auch ist die Kombination von verschiedenen Abbaukonzepten in einem Werkstück am Vogelherd und der Heidenschmiede zu beobachten. Es zeigt sich jedoch keine anhand der lithischen Industrien nachvollziehbare schnelle Entwicklung, anders als im sich anschließenden Jungpaläolithikum mit großen technologischen und kulturellen Veränderungen alle paar tausend Jahre. Diese Stabilität in der technologischen Ausprägung im Mittelpaläolithikum mag möglicherweise weniger mit fehlenden kognitiven Fähigkeiten als mit einer langsameren kulturellen Entwicklung zu tun haben.
Mit der Ankunft des anatomisch modernen Menschen bricht sich die kulturelle Evolution im Aurignacien der Schwäbischen Alb Bahn und manifestiert sich in Kunstwerken, Musikinstrumenten, Schmuck, organischen Artefakten und in einem Sprung in der lithischen Technologie. Darunter ist die gezielte Produktion von Lamellen und neuen Werkzeugtypen am entscheidendsten. Wir konnten eine von der Rohmaterialqualität abhängige Reduktionssequenzen feststellen. Diese werden eindrücklich durch die Sortierungen der Rohmaterialeinheiten und Zusammensetzungen bestätigt. Besonders die Zusammensetzungen in Kombination mit technologischer und Gebrauchsspurenanalyse sind es, die neue Schlussfolgerungen zum Verhalten anatomisch moderner Menschen zulassen. Vergleiche mit dem Geißenklösterle lassen eine Charakterisierung der lithischen Industrien des Schwäbischen Aurignacien zu und teilweise konnten zeitliche Trends herausgearbeitet werden. Mit der Gebrauchsspurenanalyse wurden weitere Einblicke in die Verwendung und Schäftung der Steinartefakte erlangt. Zentrale Fragen behandeln Unterschiede zwischen Lamellenkernen und Werkzeugen aus aurignacienzeitlichem Kontext. Die damit einhergehende Differenzierung ist entscheidend für unser Verständnis der frühen jungpaläolithischen Industrien, die zu einem großen Teil auf die Herstellung und Verwendung von Lamellen ausgelegt ist. Mit den Zusammensetzungen und den Rohmaterialeinheiten konnten wir außerdem den Reduktionsprozess einzelner Knollen und die Verwendung der Werkzeuge aus diesen Einheiten rekonstruieren, was uns einen Schnappschuss in das Leben der Menschen des Aurignaciens ermöglicht.
Für Rohmaterialanalysen war es außerdem entscheidend, die Beschaffungsstrategien aus verschiedenen Fundstellen zu vergleichen, damit nicht Muster aus einzelnen Fundstellen, sondern aus der ganzen Fundstellenregion Beachtung finden. Dadurch ist es möglich, die neuen Ergebnisse besser innerhalb der paläolithischen Fundlandschaft der Schwäbischen Alb zu kontextualisieren. Neben den gängigen Analysemethoden wurde ein Fokus auf die Rohmaterialbeschaffung gelegt. Durch die Rohmaterialanalysen mittels IR-Spektroskopie wurde versucht eine empirische Datengrundlage für die Rekonstruktion der Schweifgebiete der paläolithischen Gruppen zu schaffen. Nachweise dieser Art und in dem Umfang, wie sie vorgelegt wurden, blieben bisher aus dem süddeutschen Kontext aus.
Mit den Analysen zum Schmuck im Jungpaläolithikum, insbesondere dem oft weit transportierten durchlochten Muschelschmuck, in Kombination mit den durch lithische Rohmaterialien angezeigten Schweifgebiete, lässt sich hoffentlich in der Zukunft ein besseres Verständnis für Gruppenidentität und Territorialität im Paläolithikum schaffen.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass diese Dissertation neue Einblicke im Bezug auf die Interpretation einzelner lithischer Artefakte aber auch ganzer Inventare erlaubt. Damit ist ein größeres Potential vorhanden neue Aspekte der Lebenswelt paläolithischen Menschen zu rekonstruieren. Auf regionaler und überregionaler Ebene wurden neue Hinweise auf die Schweifgebiete der paläolithischen Bewohner der Schwäbischen Alb, deren Vernetzungen, die über diese Gebiete hinausgehen und die Einflüsse von extremen Klimabedingungen, wie das des letzten Kältemaximums, gesammelt. Die sich daraus ergebenen Implikationen für das Leben der Jäger und Sammler bieten einen Mehrwert für die urgeschichtliche Archäologie, die weit über die regionale Perspektive der Schwäbischen Alb hinaus geht.