Die Dissertation ist gesperrt bis zum 28. Februar 2025 !
Die Klimakrise wird in den kommenden Jahrzehnten zu einem beispiellosen Ausmaß an Umweltveränderungen führen, wodurch viele Organismen dazu gezwungen sein werden, sich rapide an neue oder sich ändernde Lebensräume anzupassen. Um effektive Strategien zum Erhalt von Biodiversität zu entwickeln ist ein wichtiges Ziel der Evolutionsbiologie, zu verstehen, welche Faktoren zugunsten oder entgegen schneller evolutionärer Anpassung wirken. Die zwei wichtigsten molekularen Mechanismen, die schnelle Anpassung ermöglichen, sind das Auftreten neuer genetischer (de novo) Mutationen und die Wiederverwendung von bestehender genetischer Variation (standing genetic variation, SGV), wobei letzteres in den meisten Fällen effektiver sein sollte. Trotz ihrer wichtigen Rolle in schnellen Anpassungsprozessen ist bisher wenig zu Verfügbarkeit und Aufrechterhaltung von SGV in natürlichen Populationen bekannt. Diese Doktorarbeit versucht diese Wissenslücke zu füllen und nutzt dafür einen erstklassigen Modelorganismus der Evolutionsbiologie, den dreistachligen Stichling (Gasterosteus aculeatus). Seit dem Ende des Pleistozäns haben marine Stichlinge eine adaptive Radiation erlebt — sie haben wiederholt und unabhängig voneinander Süßwassergewässer besiedelt und sich dabei schnell an die neue Umgebung angepasst. Dieses Modelsystem wurde in der Vergangenheit gut untersucht und daher wurde die genomische Grundlage der parallelen Anpassung identifiziert; es ist möglich, große Probengrößen zu sammeln; und viele genetische sowie genomische Werkzeuge wie beispielsweise ein hochwertiges Referenzgenom sind verfügbar, und machen diesen Organismus zu einer einzigartigen Plattform für die Untersuchung von SGV und ihrer Rolle bei schneller Anpassung. In dieser Arbeit untersuche ich basierend auf sehr alten Proben sowie einer großen Anzahl von zeitgenössischen Proben die Verfügbarkeit von SGV, wie SGV eine schnelle Anpassung fördern und/oder einschränken kann und wie SGV in einer Population aufrechterhalten werden kann.
Diese Dissertation umfasst zwei veröffentlichte und ein nicht eingereichtes Manuskript und beinhaltet verschiedene genomische Ansätze: einen paläogenomischen Ansatz, der ein sehr altes Genom untersucht, das aus 11.000 bis 13.000 Jahre alten Stichlingsknochen extrahiert wurde; Daten einer zeitgenössischen evolutionären Zeitreihe der Anpassung des Stichlings an mehrere Süßwasserumgebungen; und Genotypisierung sowie Sequenzierung gezielt angereichter Genomregionen auf Individualebene für Tausende marine Stichlingen, um SGV in heutigen marinen Stichlingspopulationen zu charakterisieren.
Der paläogenomische Ansatz deckt das Vorhandensein von Süßwasser- adaptiver SGV in einem sehr alten marinen Stichlingsgenom auf, was darauf hindeutet, dass adaptive SGV sowohl in alten als auch in heutigen Meerespopulationen vorhanden war und ist. Daher können zeitgenössische Populationen wahrscheinlich als guter Ersatz für die Gründerpopulationen der heutige Süßwasserpopulationen verwendet werden. Darüber hinaus fehlen einige im alten Genom vorhandene Süßwasser-Allele in der heutigen Seepopulation, die aus demselben See stammt wie das alte Genom. Dies deutet darauf hin, dass demografische Prozesse im Laufe der Zeit zu einem stochastischen Verlust nützlicher Allele führten. Die Zeitreihendaten zeigten, dass adaptive Süßwasservarianten in drei neu gegründeten Seepopulationen Alaskas innerhalb einer Zeitspanne von weniger als 30 Generationen zu hohen Allelfrequenzen anstiegen, was bestätigt, dass marine Stichlinge sich schnell an Süßwasserumgebungen anpassen können. Genotypdaten von >750 marinen Individuen aus der ursprünglichen marinen Population mit >350 SNPs zeigten ferner, dass Süßwasserallele in geringen Häufigkeiten in der marinen Gründerpopulation vorhanden sind, und hoben damit hervor, dass um einen Faktor 10 größere Probengrößen notwendig sind, um Eigenschaften von SGV wie etwa das Kopplungsungleichgewicht zwischen adaptiven Allelen zuverlässig ermitteln zu können. Um diese Limitierungen zu überwinden, wurde eine Pulldown-Sequenzierung für mehr als 9.000 marine Stichlinge mit individueller Auflösung durchgeführt, bei der die Daten für Genomregionen angereichert wurden, die zuvor als divergierend zwischen Süßwasser- und marinen Stichlingen identifiziert wurden. Die Häufigkeit adaptiver Süßwasserallele, die in zwei marinen Stichlingspopulationen aus Alaska und Washington bestimmt wurde, ist gering und die Häufigkeitsverteilungen unterscheiden sich signifikant zwischen den beiden Populationen. Marine Stichlinge entsprechen nicht simulierten F1 Hybriden von Süßwasser- und marinen Individuen, sondern mehrfach mit marinen Individuen rückgekreuzten F1s. Die auf tausenden Individuen basierenden empirischen Daten zeigen, dass jedes marine Individuum mehrere adaptive Süßwasserallele trägt und dass das interchromosomale Kopplungsungleichgewicht im Vergleich zu zufälligen Erwartungen leicht erhöht ist. Die Verfügbarkeit von SGV in der marinen Population hat dadurch das Potenzial, eine zukünftige schnelle Wiederzusammensetzung des kompletten Ensembles an adaptiven Allelen in der Süßwasserumgebung zu erleichtern. Vergleiche mit genomischen Datensätzen globaler Süßwasser-Stichlinge zeigten, dass adaptive Süßwasser-Haplotypen, die in den untersuchten marinen Populationen vorkommen, in eine Gruppe mit nordamerikanischen, europäischen sowie kalifornischen Individuen fallen. Dies stützt die Hypothese, dass SGV in der marinen Population aus mehreren unterschiedlichen Quellpopulationen stammt. Darüber hinaus deckten Sequenzierdaten des gesamten Genoms einer Süßwasserpopulation Hinweise auf sowohl weiche als auch harte Sweeps an verschiedenen adaptiven Genomregionen auf, was die entscheidende Rolle von bereits existierender SGV für die schnelle adaptive Evolution in Süßwasserpopulationen betont.
Diese Dissertation umfasst die Analyse sehr alter sowie zeitgenössischer Genome und liefert somit einen Einblick, wie SGV schnelle adaptive Evolution erleichtern kann, wie die Verfügbarkeit und Aufrechterhaltung von SGV durch evolutionäre Prozesse gefördert und/oder gehemmt werden kann und damit auch in das evolutionäre Potenzial von Biodiversität.