Psychosoziale Auswirkungen von Trauma und Flucht auf Geflüchtete und professionell Helfende am Beispiel des „Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“

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Zitierfähiger Link (URI): http://hdl.handle.net/10900/142695
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-dspace-1426957
http://dx.doi.org/10.15496/publikation-84040
Dokumentart: Dissertation
Erscheinungsdatum: 2023-07-04
Sprache: Deutsch
Fakultät: 7 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Fachbereich: Psychologie
Gutachter: Giel, Katrin (Prof. Dr.)
Tag der mündl. Prüfung: 2023-05-26
DDC-Klassifikation: 150 - Psychologie
Schlagworte: Flucht , Posttraumatisches Stresssyndrom , Psychisches Trauma
Lizenz: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=de http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=en
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Inhaltszusammenfassung:

Die Anzahl geflüchteter Menschen in Deutschland und weltweit erreichte in den letzten Jahren neue Höchststände. Dabei sind Geflüchtete vor, während und nach ihrer Flucht erheblichen Belastungen ausgesetzt, häufig auch Situationen traumatischer Qualität. Daraus können Traumafolgestörungen wie beispielsweise die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) resultieren. Metaanalysen zeigen erhöhte PTBS-Prävalenzen bei Geflüchteten von über 30%. Bei einzelnen Gruppen Geflüchteter fallen diese Werte noch deutlich höher aus. So wurden bei weiblichen Überlebenden von Genozid und Gefangenschaft PTBS-Prävalenzen von bis zu 100% gefunden. Trotz der hohen Prävalenz psychischer Erkrankungen ist der Zugang zu adäquater psychosozialer und psychotherapeutischer Hilfe für Geflüchtete in den Aufnahmeländern deutlich erschwert. Bisher gibt es nur wenige Längsschnittstudien, die den Verlauf der PTBS bei Geflüchteten untersuchen. Diese Studien sind für eine evidenzbasierte Entwicklung und Implementierung kultursensitiver Interventionen für traumatisierte Geflüchtete jedoch unabdingbar. Gesellschaftliche Stigmatisierung und Selbststigmatisierung psychischer Erkrankungen stellen eine mögliche zusätzliche Hürde zu den wenigen bereits vorhandenen Hilfsangeboten dar. Zudem gibt es erste Hinweise darauf, dass professionell Helfende im direkten Kontakt mit traumatisierten Klient:innen durch die wiederholte Konfrontation mit Details traumatischer Erfahrungen eigene posttraumatische Symptome entwickeln können. Dieses Phänomen der Sekundärtraumatisierung könnte ebenfalls einer nachhaltigen Versorgung traumatisierter Geflüchteter entgegenstehen. Das Ziel dieser Dissertation ist es, diese vielseitigen Belastungen und Hürden im Kontext Flucht zu erfassen und einen evidenzbasierten Beitrag hin zu einer adäquaten und nachhaltigen psychischen Gesundheitsversorgung für Geflüchtete in den Aufnahmeländern zu leisten. Die vorliegende Dissertation besteht aus drei Publikationen zu drei Studien. Die erste Publikation bildet eine prospektive Längsschnittstudie, die den längsschnittlichen Verlauf sowie Risiko- und Schutzfaktoren der PTBS bei 116 geflüchteten Frauen erfasst, die Genozid und Gefangenschaft durch den selbsternannten Islamischen Staat im Nordirak überlebten. Die zweite Studie nutzt eine querschnittliche Fragebogen-Erhebung, um die psychischen Auswirkungen der Arbeit mit dieser stark traumatisierten Gruppe Geflüchteter auf professionell Helfende (z.B. Sozialarbeiter:innen, Psychotherapeut:innen und Dolmetscher:innen) zu erfassen. Die dritte Studie umfasst die Entwicklung eines psychoedukativen Films für Geflüchtete zur Reduktion von Selbststigmatisierung und zur Förderung der Offenheit gegenüber psychotherapeutischen Hilfsangeboten. Die Evaluation des für diese Dissertation entwickelten Kurzfilms erfolgte in einem gemischt methodischen quasi-experimentalen Design mit einer 3-Monats Follow-up Erhebung. Alle drei Studien bestätigen die hohe Traumalast im Kontext Flucht. Überlebende von Genozid und Gefangenschaft im Nordirak wiesen auch noch zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland eine enorm hohe PTBS-Schwere auf. Über die Zeit eines Jahres im Aufnahmeland ergab sich dabei keine signifikante Veränderung der Traumaschwere. Zusätzlich zeigte sich die PTBS bei Geflüchteten mit einer erhöhten Selbststigmatisierung psychischer Erkrankungen assoziiert. Auch wies ein Fünftel der im Kontext Flucht Helfenden zu mindestens einem Zeitpunkt während ihrer Arbeit Anzeichen einer Sekundärtraumatisierung auf. Die Studien der Dissertation identifizierten ähnliche Risiko- und Schutzfaktoren für den Verlauf der PTBS bei Geflüchteten wie für die Sekundärtraumatisierung bei Helfenden. In beiden Gruppen konnten Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Konfrontation mit traumatischem Inhalt und der Symptomlast gefunden werden sowie Zusammenhänge zwischen der Symptomlast und sozialen Variablen. Bei Geflüchteten konnten zudem eine hohe Belastung durch Intrusionen sowie eine Schwächung des religiösen Glaubens durch das Trauma als Risikofaktoren für einen schweren Langzeitverlauf der PTBS im Aufnahmeland identifiziert werden. Die Evaluation des neuentwickelten Films ergab Hinweise für eine Reduktion der Selbststigmatisierung sowie eine erhöhte Offenheit gegenüber psychotherapeutischen Hilfsangeboten direkt nach der Intervention. Obwohl diese Veränderungen zum Follow-up Zeitpunkt nicht mehr signifikant waren, gaben 11% der Geflüchteten an, seit Anschauens des Films eine Psychotherapie begonnen zu haben. Die vorliegende Dissertation zeigt Belastungen, Ressourcen und Hürden im Kontext Flucht auf und liefert Anhaltspunkte für eine nachhaltige Versorgung Geflüchteter durch eine frühzeitige Identifikation von Risikogruppen unter Geflüchteten und professionell Helfenden. Somit leistet die Dissertation einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der psychosozialen Auswirkungen von Trauma und Flucht. Die Ergebnisse legen einen Grundstein für die Entwicklung, Weiterentwicklung und Implementierung gezielter Interventionen und Versorgungskonzepte für Geflüchtete und professionell Helfende. Weiterführende Implikationen für die Praxis und die weitere Forschung werden diskutiert.

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