Inhaltszusammenfassung:
Hirnstrukturen im Hirnstamm und im Kleinhirn, welche an der Generierung des vestibulookulären Reflexes (VOR) maßgeblich beteiligt sind, werden bei cerebellären Systemerkrankungen in der Regel degenerativ geschädigt.
Die Bestandteile des 3-Neuronen-Reflexbogens des VOR sind die Haarzellrezeptoren des Labyrinths, das erste vestibuläre Neuron und das Kerngebiet des N. vestibularis im Hirnstamm sowie die okulomotorischen Kerne und ihre zugehörigen Hirnnerven (Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens). Dieser Reflex wird über indirekte, langsamere Verbindungen mit zentralen Arealen moduliert. So besteht beispielsweise ein hemmender Einfluss des cerebellären Flocculus und Vermis auf den VOR.
Neuropathologisch findet sich eine olivo-ponto-cerebelläre Atrophie (OPCA) bei den drei in Deutschland am häufigsten vorkommenden autosomal dominant vererbten spinocerebellären Ataxien (SCA1, SCA2 und SCA3) aber auch bei der sporadisch auftretenden Multisystematrophie vom cerebellären Typ (MSA-C).
Die Reflexantwort des VOR wurde bei den genannten neurodegenerativen Erkrankungen sowie gesunden Kontrollpersonen vergleichend analysiert. So konnte anhand der Physiologie des VOR das degenerative Muster untersucht werden.
Mit Hilfe sinusoidaler Tests niedriger Frequenz zeigte sich ein abgeschwächter VOR bei SCA3 und SCA1 sowie eine Übererregung bei MSA-C. Die per- und postrotatorische Auswertung bei konstanter Rotation ergab eine Verminderung des VOR-Gain für SCA3 und SCA1, während bei MSA-C keine Veränderung festgestellt wurde. Bei schnellen Kopfimpulsen fand sich ein ähnliches Bild, d.h. eine Verminderung bei SCA1 und eine normale Antwort bei MSA-C. SCA2 zeigte insgesamt keine pathologischen Veränderungen des VOR (Daten für SCA3 bei Kopfimpulsen waren leider nicht auswertbar).
Diese Daten lassen auf Unterschiede im Degenerationsmuster der verschiedenen Erkrankungen schließen.
Bei MSA-C zeigte sich eine Steigerung des Reflexes nur bei niedrigfrequenter, sinusoidaler Stimulation, welche eine zentrale Modulation des VOR miterfasst. Dies weist bei MSA-C auf eine Desinhibition und damit Übererregung des VOR durch cerebelläre Schädigung bei intaktem 3-Neuronen-Reflexbogen hin.
Da eine vergleichbare cerebelläre Schädigung auch bei den SCA’s vorliegt, sind die gefundenen Unterschiede im Reflexverhalten wahrscheinlich Folge einer weiteren extracerebellären Schädigung, welche nicht Teil des degenerativen Prozesses bei MSA-C ist. Tatsächlich legen verminderte Antworten bei allen durchgeführten Tests eine Schädigung des 3-Neuronen-Reflexbogens im Hirnstamm zumindest bei SCA1 und SCA3 nahe.
Zur entsprechenden Makroskopie findet sich allerdings eine Diskrepanz, da die Hirnstammatrophie bei SCA3 vergleichsweise am Geringsten ausgeprägt ist, die Reflexantwort bei SCA3 aber am Stärksten beeinträchtigt war.
Eine mögliche Ursache lässt sich in den Kerngebieten der Nn. vestibulares oder auch weiter distal im afferenten Schenkel (Innenohr, N. vestibularis) annehmen. Die Degeneration des Ncl. vestibulares wurde sowohl bei SCA aber auch als eher diskret ausgeprägt bei MSA-C beschrieben. Hier werden vergleichende neuropathologische Studien weiterführen.
Die im Rahmen dieser Studie erzielten Ergebnisse belegen die These, dass die Neurodegeneration bei den untersuchten Erkrankungen kein unspezifisch verlaufender Prozess ist, sondern bestimmte Strukturen in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Ätiologie in spezifischer und charakteristischer Weise betrifft