Vom innermedizinischen Umgang mit einer ambivalenten Arztlegende. Vergleich des Sauerbruch-Bildes in der ärztlichen Standespresse der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

DSpace Repositorium (Manakin basiert)


Dateien:

Zitierfähiger Link (URI): http://hdl.handle.net/10900/141000
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-dspace-1410002
http://dx.doi.org/10.15496/publikation-82347
Dokumentart: Dissertation
Erscheinungsdatum: 2023-05-12
Sprache: Deutsch
Fakultät: 4 Medizinische Fakultät
Fachbereich: Zahnmedizin
Gutachter: Tümmers, Henning (Dr.)
Tag der mündl. Prüfung: 2023-02-02
DDC-Klassifikation: 610 - Medizin, Gesundheit
Freie Schlagwörter: Sauerbruch
Sauerbruch
Lizenz: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=de http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_mit_pod.php?la=en
Gedruckte Kopie bestellen: Print-on-Demand
Zur Langanzeige

Inhaltszusammenfassung:

Ernst Ferdinand Sauerbruch gilt als einer der bedeutendsten Chirurgen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war eine ambivalente Persönlichkeit, dennoch entwickelte sich ein regelrechter Sauerbruch-Mythos und er gilt bis heute als Arztlegende. Die Dissertationsschrift untersucht das Sauerbruch-Bild, das durch die medizinische Presse im Zeitraum von Sauerbruchs letzten Lebensjahren in der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung vermittelt wird, mit dem Ziel die ärztliche Erinnerungskultur insbesondere in Bezug auf den Einfluss der Ärzteschaft am Erhalt und der Kultivierung dieses Mythos sowie deren Auseinandersetzung damit zu untersuchen. Dabei wird die Erinnerung der Ärzteschaft als Kollektiv in einem kulturwissenschaftlichen Zusammenhang gesehen. Die Studie fragt nach selbstkritischen Bezügen seitens der Ärzteschaft. Dabei geht sie davon aus, dass diese eher zurückhaltend sind, um ein positives öffentliches Bild zu wahren. Zur Analyse der Sauerbruch-Darstellungen dienen allgemeinmedizinische Zeitschriften sowie chirurgische Fachzeitschriften der Bundesrepublik und der DDR, um mögliche Unterschiede, Gemeinsamkeiten oder eine wechselseitige Beeinflussung zwischen Ost- und Westdeutschland aufzuzeigen. Den Quellenkorpus stellen die Ärztlichen Mitteilungen bzw. das Deutsche Ärzteblatt, das Deutsche Gesundheitswesen, Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie vereinigt mit Deutsche Zeitschrift für Chirurgie bzw. Langenbecks Archiv für Chirurgie und das Zentralblatt für Chirurgie dar. Zum besseren Verständnis erfolgt zunächst ein Überblick über das ambivalente Sauerbruch-Bild, das durch die Fachliteratur geformt wurde und biografische Eckdaten beinhaltet. Die Darstellungen thematisieren Sauerbruchs Rolle als Pionier der Thoraxchirurgie als auch den Kontrast zwischen seinem besonders charismatischen Wesen und seiner autokratischen Klinikführung, seinem launischen und barschen Umgang mit Mitarbeitern, seiner Ablehnung bezüglich Neuerungen in der Medizin, seinen Verstrickungen im Nationalsozialismus und nicht zuletzt sein weiteres Praktizieren trotz der Erkrankung an einer Form der Demenz. Die anschließende Evaluation des Zeitschriftenmaterials rekonstruiert das Sauerbruch-Bild der Ärzteschaft. Die Analyse untergliedert sich in drei Zeitabschnitte, die sich teilweise durch signifikante Ereignisse, die mit einer verdichteten Berichterstattung in den Zeitschriften assoziiert sind, voneinander abgrenzen. Die erste Phase umfasst die Nachkriegszeit und die Fünfzigerjahre. Hier dominiert das Bild von Sauerbruch als „Halbgott in Weiß“. Durch die enge Verbundenheit vieler Autoren der untersuchten Artikel in den Fünfziger- und Sechzigerjahren fällt die Berichterstattung teilweise sehr subjektiv aus. Die zweite Phase untersucht die Sauerbruch-Darstellungen nach 1960 als Jürgen Thorwald dem Sauerbruch-Mythos sein Buch entgegensetzte, in dem er Sauerbruchs Erkrankung und die Abläufe seiner Emeritierung aufarbeitete. Die Ärzteschaft distanziert sich von den Schriften Thorwalds. Sie nimmt die Kritik nicht zum Anlass für eine Diskussion und äußert sich kaum zu Sauerbruchs Erkrankung und seinen folgenschweren Handlungen. Die dritte Phase erstreckt sich von 1970 bis zur Wiedervereinigung 1990. Durch den Generationswechsel der Autoren und die zunehmende persönliche und zeitliche Distanz findet hier eine etwas differenziertere und kritischere Darstellung Sauerbruchs statt. Dennoch kommt es zu keiner Aufarbeitung von Sauerbruchs Erkrankung oder seiner Rolle im Dritten Reich. Die Untersuchung zeigt, dass sich die Erinnerungen an Sauerbruch trotz verschiedener Staats- und Gesellschaftsformen und veränderter politischer und soziokultureller Rahmenbedingungen im historischen Verlauf wiederholen und die Berichterstattung über Jahrzehnte dieselben Inhalte hat. Die Ärzteschaft hebt Sauerbruchs außergewöhnliche fachliche Leistungen und deren Bedeutung für die Medizin sowie seine besondere Persönlichkeit als Arzt und Mensch hervor. Dabei fällt ein Wechselspiel zwischen fachlichen Informationen und Glorifizierungen auf. Die Erinnerungen der Ärzteschaft halten das Kernbild der Arztikone Sauerbruch stets aufrecht und eine durchweg kritische Auseinandersetzung, Aufarbeitung und Analyse seiner Ambivalenzen und Verfehlungen bleibt in beiden deutschen Staaten aus. Die ärztliche Standesorganisation schützt in ihrer Presse den guten Ruf Sauerbruchs und damit das Ansehen der allgemeinen Ärzteschaft, deren berühmter Vertreter Sauerbruch ist. Dadurch entsteht ein wechselseitiger Nutzen – eine profitable Symbiose. Durch diese selektiven Erinnerungen trägt sie zum Erhalt und der Kultivierung des Sauerbruch-Mythos bei. Die ärztliche Standesorganisation instrumentalisiert Sauerbruch durch ihre Presse, indem sie ein gemeinsames Gedächtnis zu Sauerbruch schafft, das dem gewünschten Selbstbild vom Arztideal entspricht und ihre Werte und Identitäten stärkt.

Das Dokument erscheint in: